Irrationales Urteil
Stellen Sie sich vor, Apple würde beschliessen, mit der Einführung eines Elektroautos in den Automobilmarkt einzusteigen. Diese Neuigkeit würde Sie zumindest neugierig machen. Manche wären vor Aufregung und Vorfreude überwältigt: Wie sieht das Auto aus? Welche Technologien nutzt es? Wie viel kostet es? Nun stellen Sie sich vor, Ford würde beschliessen, ein topmodernes Smartphone auf den Markt zu bringen. Was würden Sie denken? Wären Sie interessiert? Ich wage einmal zu vermuten, dass Sie von dieser Ankündigung nicht nur ziemlich unbeeindruckt wären, sondern dass Sie Ford wahrscheinlich nicht trauen würden, Ihnen ein Smartphone zu verkaufen.
Doch ist das wirklich vernünftig? Mal ehrlich, Ford wäre doch genauso in der Lage, ein Smartphone auf den Markt zu bringen wie Apple ein Auto (Smartphones sind sicherlich einfacher zu entwickeln). Dennoch akzeptieren wir als Verbraucher nicht, dass Ford Smartphones herstellt. Manche würden sagen: „Ford ist eine Automarke, keine Handy-Marke!“
Markenverankerung
Dieses Phänomen in der Markenstrategie lässt sich durch die so genannte Markenverankerung erklären. Die Markenverankerung ist als wahrgenommener Kompetenz- und Glaubwürdigkeitsbereich einer Marke definiert – mit Betonung auf „wahrgenommen“. Es geht hier nämlich nicht um die Realität, sondern um die Wahrnehmung (wie dies im Branding häufig der Fall ist). Stellen Sie sich einen Anker vor, der an einem Boot (ein Unternehmen) festgemacht ist: Der Radius, in dem sich das Boot bewegen kann entspricht dem wahrgenommenen Kompetenz- und Glaubwürdigkeitsbereich eines Unternehmens. Ford ist als „amerikanischer Autohersteller“ verankert und würde sich durch die Vermarktung von Smartphones aus seinem Radius herauswagen. Wenn sich ein Unternehmen von seinem Anker löst, läuft es Gefahr, das Vertrauen und das Interesse seiner Kunden zu verlieren.
Pleiten und Erfolge
Viele Marken sind bei dem Versuch, sich von ihrem Anker loszureissen, auf die Nase gefallen. Hier einige der bekannteren: Die Frauenzeitschrift Cosmopolitan, die sich in der Vermarktung eines Joghurts versuchte, der Versuch von Volkswagen, mit dem VW Phaeton auf den Markt für Luxuslimousinen vorzustossen, und die durchschlagende Niederlage der Parfüms von Harley Davidson. Manche Marken dagegen sind sich ihrer Markenverankerung bewusst und bauen ihr Geschäft dementsprechend aus. Toyota war sich seiner Verankerung als „japanische Automarke mit ausgezeichnetem Preis-Leistungs-Verhältnis“ bewusst und rief in den 1980er Jahren die Marke Lexus ins Leben, um die Luxusfahrzeuge auf dem amerikanischen Markt zu verkaufen. Ähnlich war es auch bei Nissan mit der Einführung der Marke Infinity. In unseren Breitengraden erkannte Nestlé, dass die Verankerung von Nescafé als „grundlegendes Alltagsprodukt“ nicht zu seinem neuen Kapselsystem passen würde, das für einen gehobeneren Markt bestimmt war. So entstand die Marke Nespresso. Am Rande sei angemerkt, dass es für eine Marke immer einfacher ist, sich nach unten als nach oben zu bewegen.
Markenwachstum und -entwicklung
Aus der Perspektive der Markenentwicklung ist der Begriff der Verankerung derselbe – sowohl für kleine Unternehmen im Aufschwung als auch etablierte internationale Unternehmen. Welche Punkte sind zu beachten, bevor Sie eine Marke für einen neuen Markt entwickeln? Welche Optionen haben Sie? Je nach Markt und Verankerung Ihrer Marke(n) gibt es vier mögliche strategische Ansätze: Markenneupositionierung, Markenerweiterung, Nutzung flankierender Marken oder Schaffung einer neuen Marke.
Markenerweiterung
Unter Markenerweiterung versteht man die Verwendung eines bekannten Markennamens zur Einführung eines neuen Produkts in einer neuen Kategorie. Die Erweiterung hängt von der Verankerung der Marke ab und ob diese sich auf das neue Produkt übertragen lässt. Caterpillar zum Beispiel hat erfolgreich eine Reihe von „robusten“ Smartphones auf den Markt gebracht. Da die Marke Caterpillar als „Hersteller robuster Produkte“ verankert ist, wussten die Verbraucher sofort, dass diese Geräte praktisch unzerstörbar und mit einer langlebigen Batterie ausgestattet waren. Auch die Entscheidung, eine Linie von Sportbekleidung und Accessoires auf den Markt zu bringen, war für die Fitness-App Freeletics, die als „Fitness-Freak-Community“ verankert ist, absolut sinnvoll. Wenn aber Let’s Go Fitness mit Sportbekleidung auf den Markt käme, würde diese wahrscheinlich als Werbematerial angesehen werden.
Markenneupositionierung
Bei der Neupositionierung einer Marke wird ihre Verankerung verschoben, um neue Assoziationen zu schaffen. Ein Amateur würde von einem „Imagewechsel“ sprechen. Für gut etablierte Marken ist dieser Prozess extrem zeitaufwändig. Audi brauchte Jahre, um als Luxusautomobilmarke wahrgenommen zu werden. Eine Neupositionierung bringt oft – wenn auch nicht immer – betriebliche und strukturelle Veränderungen mit sich (die heutigen Audis sind qualitativ hochwertiger). Innerhalb von nur vier Jahren entwickelte sich das EMBA-Programm der EPFL Lausanne von einem „technischen Master für Ingenieure“ zu einem „innovativen, auf das Zeitalter der digitalen Transformation zugeschnittenen Master“ und zog fast 50 % mehr Bewerber an.
Flankierende Marken
Um ihre Marktpräsenz zu erweitern, führen Unternehmen manchmal neue ergänzende Marken ein, um ähnliche Produkte an eine andere Gruppe von Verbrauchern zu verkaufen. Migros zum Beispiel hat Migros Budget eingeführt, um eine besonders preisbewusste Kundschaft anzusprechen. Je nach angestrebtem Ziel kann der Name der Hauptmarke (und deren Verankerung) dazu verwendet werden, einen Mehrwert zu erzeugen, wie bei Migros Budget (Migros sichert die Qualität) und Emporio Armani, das von der italienischen Luxusverankerung der Originalmarke Giorgio Armani profitiert. In anderen Fällen verschwindet die Hauptmarke und weicht dem neu geschaffenen Namen. Der multinationale Hotelriese Marriott besitzt über 30 Hotelmarken, die unterschiedliche Kundensegmente ansprechen sollen und von denen einige keinerlei Bezug auf den Namen Marriott nehmen. Dazu gehören Ritz Carlton, Bulgari Hotels, Moxy und Aloft, die jegliche Assoziation mit der Verankerung von Marriott als „Hotelgruppe der Mittelklasse“ vermeiden.
Erwerb oder Schaffung einer Marke
In seltenen Fällen wagen sich Unternehmen mit einer völlig neuen Marke in einen unerschlossenen Markt. Genau das hat PostFinance 2015 mit der Handy-Zahlungsapp Twint getan. Mit dem neuen Namen konnte PostFinance Twint von Anfang an als innovatives Produkt (nicht nur für PostFinance-Nutzer) verankern. Andere Unternehmen erschliessen neue Märkte durch die Übernahme bestehender Marken. So zum Beispiel Luxottica, das weltweit grösste Brillenunternehmen, das unter anderem für Marken wie Chanel, Prada und Ferragamo unter Lizenz Brillen herstellt. Mit der Übernahme des Sonnenbrillen-Einzelhändlers Sunglass Hut im Jahr 2001 konnte Luxottica den Bekanntheitsgrad der Marke zum Ausbau seiner Vertriebskanäle nutzen, da die Verbindung zwischen den beiden Marken für den normalen Verbraucher nicht erkennbar war.
Die Schaffung einer neuen Marke ist ein spannendes aber auch kostspieliges Unterfangen. Eine zu rasche Erweiterung einer Marke ausserhalb ihrer Verankerung kann jedoch katastrophale Folgen haben. Eine objektive Beurteilung der Markenverankerung ist daher von grundlegender Bedeutung, auch wenn diese vielleicht selbsterklärend scheint. Selbst die Grössten und Besten haben bereits versagt. Das Fire Phone von Amazon schlug auf dem Markt ein und war dann ebenso schnell wieder verschwunden.
Manchmal genügt ein einseitiger Ruderschlag um den Unterschied zwischen Ankern und an Land driften zu verdeutlichen.
Die ursprüngliche Version wurde erstmals veröffentlicht auf PME Magazine blog.